„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen.

Grundidee

„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen. (Corinne Bromundt, Illustratorin)

Im Auftrag von FamOS (Familien Ost-Schweiz) und männer.ch entwickelte Mark Riklin, Begründer der „Meldestelle für Glücksmomente“, anlässlich des 6. Vätertags 2012 das Projekt “Vätergeschichten“: Männer, Frauen und Kinder erzählten in öffentlichen Schreibstuben und ausgewählten Unternehmen von ihren Erinnerungen an ihre Väter, Grossväter oder an ihr Vatersein. Bis zum Vätertag 2013 ist ein Archiv aus 200 Szenen entstanden. “Vätergeschichten“ ist auf mehrere Jahre angelegt und verfolgt den Ansatz Väterlichkeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Betrieben an kleinen Geschichten zu veranschaulichen. Dadurch soll ein Gegenpol zur problemorientierten Darstellung von Väterlichkeit entstehen. Biografische Erinnerungen korrigieren stereotype Bilder, zeigen die Vielfalt von Väterlichkeit und regen an, sich Zeit fürs Vatersein zu nehmen.

Aus dem Geschichtenarchiv

Opa der Spiegel

Als Oma starb, zogen wir als ganze Familie zu Opa in sein Bauernhaus. Mein Opa ist für mich ein Vorbild bezüglich Zufriedenheit. Ich glaube, er hatte ein „mega erfülltes Leben“. Ich und meine Schwester spielen in der Stube. Plötzlich finden wir die Kiste mit den Haarspangen. Wir spielen gegenseitig Coiffeuse. Wir brauchen keinen Spiegel. Immer, wenn wir fertig sind, stehen wir vor Opa hin und er macht die Beurteilung. Aber eben, so wie sein Leben ist, sie fällt immer wohlwollend aus. Er sitzt einfach da und strahlt. Wir hatten einen „Heidenspass“.

  • Enkelin: 1994, Köchin
  • Grossvater: 1926, Landwirt
  • Jahr der Szene: 1996

Klassenwechsel

Mein Vater war Geschichtslehrer. In unserer Primarschule war es üblich, dass wir jedes Jahr von einer neuen Lehrperson unterrichtet wurden. Am Ende des ersten Schuljahrs teilte die Lehrerin mir mit, dass ich nächstes Jahr zu Frau Meyer in die Schule gehen muss. Ich war untröstlich und weinte bitterlich. Er könne als Lehrer doch bestimmt etwas dagegen unternehmen, flehte ich meinen Vater an. Er konnte nichts daran ändern. Aber jedes Jahr, vor dem Klassenwechsel, bereitete er mich sorgfältig darauf vor und tröstete mich sanft. Meine Mutter, sonst eine gute Trösterin, hatte bei diesem jährlichen Ritual nichts zu suchen. Das war eine Sache zwischen mir und meinem Vater.

  • Tochter: 1960, Berufsberaterin
  • Vater: 1932, Geschichtslehrer
  • Jahr der Szene: 1967

Kurzurlaub

Mein Vater legte die Arme um den Hals seines jüngsten Bruders. Onkel R. beugte sich vor und stieg – meinen Vater auf dem Rücken – die Treppe hoch zu unserer Wohnung. Es war Weihnachten. Mein Vater kehrte aus dem Pflegeheim, wo er mit Abstand der Jüngste war, zu uns nach Hause zurück. Für vier Tage.

  • Sohn: 1956, Jurist
  • Vater: 1937, Sanitärinstallateur
  • Jahr der Szene: 1971

Das Vätergeschichten-Feuer weitertragen

Liebe Leser:innen

Zwei Jahre sind es her, seit ich das erste Mal mit dem Archiv für Vätergeschichten in Kontakt kam. Ich durfte eine Vätergeschichtensammlung & -lesung rund um das Fest der Kulturen in St. Gallen organisieren.

Das Thema liess mich seither nicht mehr los. Zum einen beruflich, als Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, und zum anderen als Vater und Bezugsperson von drei Kindern, welche ich beim Aufwachsen begleite.

Geschichte und Geschichten begleiten mich, seit ich denken kann. Geschichte war mein Lieblingsfach in der Schule. Ich liebe es noch heute zu lesen und dadurch in andere Welten ein- und abzutauchen.

Ich bin überzeugt, dass das Erzählen von Geschichten – sogar schon vor der Geburt – eine wertvolle Grundlage für die Vater-Kind-Bindung schafft. Es eröffnet auch immer wieder besondere Momente der Zweisamkeit und bereichert damit sowohl das Vater- als auch das Kindsein. Im Wissen, dass das Erzählen von Geschichten bisweilen ziemlich fordern kann. Bei mir zum Beispiel dann, wenn das eine Kind immer genau die eine – wirklich partout keine andere – Geschichte erzählt haben will und auch keine – noch so kleine – Abänderung toleriert. Oder das andere Kind keine vorgelesenen Geschichten akzeptiert und in ihren Worten, «Gschichte usem Muul» (als Begriff für «frei erfundene Geschichten») hören möchte.

Überzeugt davon, dass es nicht die eine Väterlichkeit, sondern eben viele Formen von Väterlichkeit(en) gibt, bin ich beruflich sehr neugierig darauf zu hören, wie Väterlichkeit erinnert wird. Der Frage nachzugehen, ob es generationelle und kulturelle Unterschiede gibt, oder vielmehr herauszufinden, wo die Gemeinsamkeiten liegen, reizt mich.

Darum freue ich mich sehr, das Vätergeschichten-Feuer von Mark Riklin übernehmen zu dürfen.

Ich bin geehrt und dankbar, dieses Feuer weitertragen zu dürfen. Die Glut zu hüten, von Zeit zu Zeit zu schüren und mit neuen, inspirierenden Geschichten lebendig zu halten.

Ich freue mich auf diesen Weg, viele spannende Begegnungen und noch mehr bereichernde Geschichten!

Herzliche Grüße
Marcel Kräutli

Marcel Kräutli ist neuer Leiter des Archivs für Vätergeschichten

Ein Sonntag im Juni 2013. Dicht gedrängt sitzen die Besucher:innen am nationalen Vätertag auf den Fluren der Geburtenabteilung des Spitals Herisau, nachdem sie ihre nassen Regenmäntel an Infusionsständern aufgehängt haben. Ein Schauspieler-Duo liest erstmals ausgewählte Szenen aus dem neu gegründeten Archiv für Vätergeschichten. Als Schauplatz dient eine Wochenbettstation, wo neben Kindern und Müttern auch Väter auf die Welt kommen. Unvergesslich, wie Kindergeschrei aus den Kindern die Lesung akustisch untermalen. 12 Jahre später besteht das Archiv für Vätergeschichten aus über 300 Szenen, die auf eindrückliche Art illustrieren, wie sich das Bild des Vaters im Laufe der Zeit verändert hat. Anfangs Jahr ist die Leitung des Archivs für Vätergeschichten von Mark Riklin auf Marcel Kräutli, Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, übergegangen – eine ideale Besetzung,  herzlich willkommen!

Vätergeschichten aus aller Welt

Donnerstagabend in einem St.Galler Hinterhof. «My father is my foundation. His values, his culture and his way of life have shaped me», beginnt die Erinnerung an einen indischen Vater, die anlässlich der musikalischen Lesung «Vätergeschichten aus aller Welt» verlesen wird. Auf Wunsch des Erzählers wird die Hommage an seinen Vater gefilmt und nach Delhi gesandt. Als Dank und Würdigung seiner Unterstützung und Verlässlichkeit.

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