Grundidee
„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen. (Corinne Bromundt, Illustratorin)
Im Auftrag von FamOS (Familien Ost-Schweiz) und männer.ch entwickelte Mark Riklin, Begründer der „Meldestelle für Glücksmomente“, anlässlich des 6. Vätertags 2012 das Projekt “Vätergeschichten“: Männer, Frauen und Kinder erzählten in öffentlichen Schreibstuben und ausgewählten Unternehmen von ihren Erinnerungen an ihre Väter, Grossväter oder an ihr Vatersein. Bis zum Vätertag 2013 ist ein Archiv aus 200 Szenen entstanden. “Vätergeschichten“ ist auf mehrere Jahre angelegt und verfolgt den Ansatz Väterlichkeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Betrieben an kleinen Geschichten zu veranschaulichen. Dadurch soll ein Gegenpol zur problemorientierten Darstellung von Väterlichkeit entstehen. Biografische Erinnerungen korrigieren stereotype Bilder, zeigen die Vielfalt von Väterlichkeit und regen an, sich Zeit fürs Vatersein zu nehmen.
Aus dem Geschichtenarchiv
Barry White und Lion King
Musik macht ihn aus, meinen Vater. Er spielt Klavier und Akkordeon, exotische Instrumente wie ein ausgehöhlter und mit Wasser gefüllter Kürbis. Er liebt Dissonanzen und Soul. Früher musizierten wir oft zusammen: Er war am Klavier, meine Mutter hat gesungen und ich getanzt. Nur für mich eignete er sich ein ganzes Repertoire von Disneyliedern an. Als er dieselben Lieder vor kurzem an einem Familienfest spielte, musste ich weinen – vor lauter Rührung, tiefer Verbundenheit und der Freude darüber, so viel mit meinem Vater teilen zu können.
- Tochter: Fachfrau Betreuung Kind, 1990
- Vater: Bildungsbeauftragter für Gesundheitsberufe, 1957
- Jahr der Szene: 2014
Und plötzlich ein Pfefferminzbonbon
Mein Vater war ein „Chlütteri“. Sein selber hergestelltes Weihnachtsglöckli aus Aluminium setze ich heute noch ein. Er baute mir auch ein eigenes Trottinette, stellte für mich eine Bauklötzesammlung her oder schenkte mir einen Fingerring mit einem 50er darauf. Ich erinnere mich auch noch genau an die wohlig warm ausgekleidete Harasse, die er auf meinen Schlitten montierte. Sonst aber war er ein sehr strenger Vater – manchmal fast ein sturer Bock. Ich musste den Teller immer fein säuberlich ausessen. Und das Mittagessen musste immer genau um 12.00 Uhr auf dem Tisch stehen. Ich weiss noch genau, wie ich immer am Fenster wartete, bis er um fünf vor 12 mit dem Velo von der Arbeit bei uns vorfuhr. Eigentlich passt es nicht ganz in dieses Bild, dass ich ihm während seines Mittagsschlafes Zöpfchen in seine Haare machen durfte. Bei Ausflügen hatte er immer Pfefferminzbonbos oder Caramel als Überraschung in der Tasche. Bis ich etwa zehn Jahre alt war, gab mir die Art und Weise meines Vaters viel Geborgenheit. Später bekam seine Sturheit für mich einen negativen Charakter, und es begann ein harter Weg der Auseinandersetzung, des Widerstands und der Versöhnung.
- Adoptivvater: 1905, Schlosser
- Tochter: 1952, Sozialarbeiterin
- Jahr der Szene: 1960
Der Pilot vom „Nüüt“
Wir hatten einen Hund. Manchmal durfte ich abends meinen Vater auf dem letzten Spaziergang begleiten. Wenn die Sterne schienen, haben wir sie uns angesehen. Mein Vater hatte keine Ahnung von Astronomie. Wir haben uns irgendeinen ausgesucht; das war dann „unser Stern“. Wenn mein Vater mich ins Bett gebracht hat, war mein Bett ein Raumschiff. „Ds Nüüt“ haben wir es genannt. Wir haben uns, dicht aneinander gekuschelt, die Decke über die Köpfe gezogen, mein Vater hat mich angegurtet und beim Start hat er mich durchgeschüttelt. Dann ging’s los ins Weltall, vorbei an Sternen, Ausserirdischen, Supernovas. Jedes Mal ein neues Abenteuer. Mein Vater war ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Tagsüber war er manchmal aufbrausend, ungerecht, launisch – aber als Pilot vom „Nüüt“ war er der Grösste! Er ist früh gestorben. Vor seinem Tod habe ich in der Bibliothek nachgesehen, wie unser Stern heisst. Mein Vater wollte es wissen; er sagte, er gehe nach dem Tod dorthin und sei dann von dort aus immer für mich da. Als ich endlich herausgefunden hatte, wie der Stern heisst, war mein Vater schon nicht mehr ansprechbar. In der Nacht darauf ist er gestorben. Aber ich hab’s ihm trotzdem gesagt; er hat es sicher gehört. Ausserdem findet ein Top-Pilot wie er auch so ans Ziel. Auch nach 20 Jahren blicke ich manchmal zum Sternenhimmel und denke an meinen Papi. Heute fliegt mein Mann manchmal abends mit den Kindern zum Mond. Das habe nicht ich ihm so aufgetragen; das hat sich so ergeben. Aber vielleicht hat es schon etwas mit meinen Kindheitserinnerungen zu tun, sicher bin ich nicht. Ich mache das mit den Kindern nie – das ist eine Papi-Sache.
- Tochter: 1967, Märchenerzählerin
- Vater: 1933, Bijoutier
- Jahr der Szene: ca. 1975
Aktuelles
Das Vätergeschichten-Feuer weitertragen
Liebe Leser:innen
Zwei Jahre sind es her, seit ich das erste Mal mit dem Archiv für Vätergeschichten in Kontakt kam. Ich durfte eine Vätergeschichtensammlung & -lesung rund um das Fest der Kulturen in St. Gallen organisieren.
Das Thema liess mich seither nicht mehr los. Zum einen beruflich, als Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, und zum anderen als Vater und Bezugsperson von drei Kindern, welche ich beim Aufwachsen begleite.
Geschichte und Geschichten begleiten mich, seit ich denken kann. Geschichte war mein Lieblingsfach in der Schule. Ich liebe es noch heute zu lesen und dadurch in andere Welten ein- und abzutauchen.
Ich bin überzeugt, dass das Erzählen von Geschichten – sogar schon vor der Geburt – eine wertvolle Grundlage für die Vater-Kind-Bindung schafft. Es eröffnet auch immer wieder besondere Momente der Zweisamkeit und bereichert damit sowohl das Vater- als auch das Kindsein. Im Wissen, dass das Erzählen von Geschichten bisweilen ziemlich fordern kann. Bei mir zum Beispiel dann, wenn das eine Kind immer genau die eine – wirklich partout keine andere – Geschichte erzählt haben will und auch keine – noch so kleine – Abänderung toleriert. Oder das andere Kind keine vorgelesenen Geschichten akzeptiert und in ihren Worten, «Gschichte usem Muul» (als Begriff für «frei erfundene Geschichten») hören möchte.
Überzeugt davon, dass es nicht die eine Väterlichkeit, sondern eben viele Formen von Väterlichkeit(en) gibt, bin ich beruflich sehr neugierig darauf zu hören, wie Väterlichkeit erinnert wird. Der Frage nachzugehen, ob es generationelle und kulturelle Unterschiede gibt, oder vielmehr herauszufinden, wo die Gemeinsamkeiten liegen, reizt mich.
Darum freue ich mich sehr, das Vätergeschichten-Feuer von Mark Riklin übernehmen zu dürfen.
Ich bin geehrt und dankbar, dieses Feuer weitertragen zu dürfen. Die Glut zu hüten, von Zeit zu Zeit zu schüren und mit neuen, inspirierenden Geschichten lebendig zu halten.
Ich freue mich auf diesen Weg, viele spannende Begegnungen und noch mehr bereichernde Geschichten!
Herzliche Grüße
Marcel Kräutli
Marcel Kräutli ist neuer Leiter des Archivs für Vätergeschichten
Ein Sonntag im Juni 2013. Dicht gedrängt sitzen die Besucher:innen am nationalen Vätertag auf den Fluren der Geburtenabteilung des Spitals Herisau, nachdem sie ihre nassen Regenmäntel an Infusionsständern aufgehängt haben. Ein Schauspieler-Duo liest erstmals ausgewählte Szenen aus dem neu gegründeten Archiv für Vätergeschichten. Als Schauplatz dient eine Wochenbettstation, wo neben Kindern und Müttern auch Väter auf die Welt kommen. Unvergesslich, wie Kindergeschrei aus den Kindern die Lesung akustisch untermalen. 12 Jahre später besteht das Archiv für Vätergeschichten aus über 300 Szenen, die auf eindrückliche Art illustrieren, wie sich das Bild des Vaters im Laufe der Zeit verändert hat. Anfangs Jahr ist die Leitung des Archivs für Vätergeschichten von Mark Riklin auf Marcel Kräutli, Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, übergegangen – eine ideale Besetzung, herzlich willkommen!
Vätergeschichten aus aller Welt
Donnerstagabend in einem St.Galler Hinterhof. «My father is my foundation. His values, his culture and his way of life have shaped me», beginnt die Erinnerung an einen indischen Vater, die anlässlich der musikalischen Lesung «Vätergeschichten aus aller Welt» verlesen wird. Auf Wunsch des Erzählers wird die Hommage an seinen Vater gefilmt und nach Delhi gesandt. Als Dank und Würdigung seiner Unterstützung und Verlässlichkeit.
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